Appreciative Inquiry

 

Hinaus aus dem Tunnel
Appreciative Inquiry - wieder eine neue Management-Mode

von Bernd Niestrath

Nein, eine neue Management-Mode ist Appreciative Inquiry nicht (abgekürzt AI). Nur ist das Vertrackte an dem Begriff, dass man ihn - wie so häufig bei Englischem - nicht wörtlich in's Deutsche übertragen kann. Umschrieben bedeutet er so viel wie "wertschätzende Erkundung / Entwicklung". Eine andere Übersetzung ist: "wertschätzende Unternehmensentwicklung". So weit so gut.

Was steht dahinter?

In Deutschland spielen wir oft das Spiel "Knüppel aus dem Sack". Wenn bei uns etwas nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen, wird der Knüppel heraus geholt und d'rauf geht's. Da kann es sich um unser privates Umfeld handeln oder um einen Vorfall im Betrieb oder die Fussball-Nationalmannschaft, die vorzeitig aus Holland nach Hause fahren muss.
Diejenigen, die unsanft mit dem Knüppel Bekanntschaft machen, sind verständlicherweise wenig erbaut. Sie igeln sich ein oder schlagen zurück. Etwas Positives entsteht so jedenfalls nicht.
Appreciative Inquiry hat einen ganz anderen Denkansatz: AI sagt nämlich, in jeder Gemeinschaft oder Gruppe, jeder Organisation oder Firma gibt es Gutes, das in der Vergangenheit erfolgreich war. Man muss sich nur die Mühe machen, dieses Gute (wieder) zu entdecken. Das hilft zügig aus dem Tal der Tränen, denn nichts ist so motivierend wie der Erfolg - auch wenn er schon etwas zurück liegt. Aber andererseits: Warum sollen sich vergangene Erfolge meiner Organisation nicht erneuern lassen?
Positiv denken und wie bekommen wir Aufbauendes praktisch hin? So lautet also die Philosophie hinter AI. Es wird ein Veränderungsprozess angeschoben.

Wie setze ich diese Philosophie praktisch um?

AI hat 4 Module, die aufeinander aufbauen und einen praktischen Weg aus der Sackgasse bieten - und zwar recht zügig:

  • Interviews zum Entdecken, Verstehen, Wertschätzen

  • sich vorstellen, was sein könnte

  • Dialog führen über das, was sein sollte

  • fest in's Auge fassen, was sein wird, wenn wir wirklich Dinge zum Besseren wandeln wollen (statt weiter "motzen" oder Schlimmeres)

Interviews zum Entdecken, Verstehen, Wertschätzen

Hier findet man sich zunächst paarweise zusammen und interviewt sich gegenseitig. Dabei benutzt man einen sorgfältig und individuell vorbereiteten Interview-Bogen, der speziell für die jeweilige Fragestellung der Veranstaltung erarbeitet wurde.

Gekürztes Beispiel aus einer Kunden-Befragung von einem Lieferanten:

  1. kurze Einleitung

  2. "Hintergrund-Fragen" - da kann gefragt werden: "Damit ich einen Überblick erhalte, bitte erzählen Sie mir kurz, was Ihre Firma tut? Beschreiben Sie mir Ihre Arbeit hier?"

  3. "Auswahl-Fragen" - z.B. "Welche wesentlichen Erfahrungen haben Sie dazu veranlasst, Leistungen von uns als Ihrem Lieferanten in Anspruch zu nehmen?"

  4. "Leistungs-Fragen" - z.B. "Hatten sie irgendwelche Probleme mit unseren Leistungen? Haben Sie es gesagt (und wem bei uns)? Wie hat er / sie darauf reagiert? Hat diese Reaktion Ihre Erwartungen erfüllt? Was könnte Sie erfüllt haben?"

  5. "Benchmarking-Fragen" - z.B. "Sie arbeiten auch mit anderen Lieferanten. Geben sie mir bitte ein Beispiel, wo Sie ein (anderer) Lieferant durch seine Leistung begeistert hat. Bitte erzählen sie mir darüber."

Appreciative Inquiry - Ablauf des Prozesses in 4 Phasen

© by Bernd Niestrath, bniestrath@t-online.de

Die erkundenden Fragen und das aktive Zuhören fördern selbst bei eingefleischten Skeptikern Höhepunkte zu Tage, die verschüttet waren.

Möglicherweise über mehrere Zwischenstufen (nach der Paar-Situation - z.B. in einer 4er-, 8er-Gruppe und so weiter - je nach Anzahl der Gesamtgruppe) werden die Ergebnisse verdichtet und in Form von (Erfolgs-)Geschichten ganz zum Schluss dem Plenum erzählt.

Dabei stellt sich ein kleines Wunder ein: die (Erfolgs-)Geschichten ähneln sich im Kern sehr stark. Gemeinsamkeiten werden (wieder) erkannt, gemeinsam erlebte Erfolge kommen zurück an die Oberfläche. Dadurch verschwinden anfängliche Hindernisse zum offenen Dialog. Miteinander "Durchstarten" ist angesagt - nicht mehr Aneinander-vorbei- oder gar Gegeneinander-Arbeiten.

Sich vorstellen, was sein könnte

In dieser Phase (= Nr. 2 nach den Interviews) werden Visionen entworfen. Dazu kommt man wieder gruppenweise zusammen und greift das Positive auf, das in den Erzählungen vorher zum Ausdruck kam. Die Ergebnisse der visionierenden Gruppenarbeit werden am Schluss erneut im Plenum vorgetragen. Stellen sie sich dies bitte wie ein Kaleidoskop vor, mit dem Sie sich vielleicht in Kindertagen vergnügt haben.

Das kann auf vielerlei Art und Weise passieren: als Sketch, Gedicht oder auch ganz sachlich an Flipchart oder Pinwand. Jede Gruppe tut dies wie sie möchte. Zwang zu irgendeiner Präsentationsform gibt es nicht.

Das motiviert und spornt an zu positiv aufgeladenem Tun.

Dialog führen über das, was sein sollte / Einsatzbeispiele

In der nächsten Phase geht es an das praktische Gestalten der Visionen. Für alle Aspekte des AI-Generalthemas werden Aussagen erarbeitet.

Es kommen dann z.B. Aussagen zur Unternehmenskultur oder einer gemeinsmen Stra-tegie nach einer Fusion, zu Kundenzufriedenheit, zu ganzheitlicher Produktentwicklung mit dem Ziel des Vernetzens von Kundenanforderungen und öko-sozialer Umwelt ("Null Abfall bei der Produktion"), zu Personalentwicklung und vieles mehr.

Ganz wichtig ist, dass die Aussagen positiv formuliert werden. Sie sollen verständlich, nachvollziehbar, erstrebenswert, konkret, erreichbar sein.

Fest in's Auge fassen, was sein wird

Jetzt wird es sehr praktisch-handfest. Denn die Teilnehmer kümmern sich nun Schritt für Schritt um das Was, Wie, Wer, Wo, Wann. Um das konkrete Umsetzen also.

Anmerkungen am Schluss

Sie können eine AI mit einer kleinen Gruppe durchführen, z.B. einem Führungskreis von 8, 10 oder 20 Managern. Es können aber auch mehrere hundert Personen aus allen Bereichen eines Unternehmens / einer Organisation oder einem speziellen Bereich als Ausschnitt sein. Der Zeitrahmen variiert zwischen 2 und 4 Tagen.

Ich rate denjenigen, die bei der Aussage "zwischen 2 und 4 Tagen" wegen des Zeitaufwands die Stirn runzeln, folgendes: Überschlagen Sie einfach einmal, wieviel Zeit in Ihrer Organisation / Ihrem Unternehmen mit Heulen und Zähneklappern unproduktiv vertan wird.

Dann bewerten Sie Ihr Zwischenergebnis mit Geld - dabei aber bitte nicht "fuddeln", denn auf Ihre organisations- oder unternehmensüblichen Sätze gehören ja noch mindestens 80% oben auf - die Lohnnebenkosten nämlich.

Natürlich gibt es eine Alternative zu Appreciative Inquiry AI: man lässt alles beim alten und verharrt in der Sackgasse. Die Kennziffer Krankenstand spiegelt dies anschaulich.

Die positive Korrelation von Mitarbeiter-Motivation und Produktivität, unzählige Untersuchungen zeigen dies, bleibt dann allerdings in weiter Ferne. Auch Ihre Gewinn- & Verlust-Rechnung fördert dann bald Unerfreuliches zu Tage.


© by Bernd Niestrath, Stand: 28. November 2000

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